NRW Landtagswahl 2022

IHK NRW und WHKT: Gemeinsame Erwartungen an die künftige Landesregierung

Im Jahr 2021 haben sich 90.064 junge Menschen in Nordrhein-Westfalen für eine duale Ausbildung in der Industrie, im Handel, in der Dienstleistungsbranche und im Handwerk entschieden. Gemeinsam sind die Industrie- und Handelskammern und die Handwerkskammern damit für mehr als 80 Prozent des NRW-Ausbildungsmarktes zuständig. Gemeinsam verzeichnen unsere Mitgliedsunternehmen einen Rückgang von 4.518 Neu-Auszubildenden gegenüber der Zeit vor der Corona-Pandemie. Die fehlenden Auszubildenden von heute sind die fehlenden Fachkräfte von morgen. Sie sind die Achillesferse unserer Wirtschaft, denn sie sichern Innovation und Wettbewerbsfähigkeit, Wachstum und Beschäftigung für unser Land. Die Fachkräftenot gefährdet den Wirtschaftsstandort NRW und damit auch unseren Wohlstand und letztlich die Versorgungsleistungen für private Haushalte und Unternehmen zunehmend.
IHK NRW-Präsident Ralf Stoffels fordert:
“Der Berufsschulunterricht wird in Zukunft immer mehr zur Herausforderung. Wir brauchen mehr Lehrkräfte für Berufskollegs. So lange diese nicht da sind, muss gelten: Erst die Pflicht, dann die Kür. Die Klassen der dualen Auszubildenden sollten klaren Vorrang gegenüber zusätzlichen Bildungsangeboten der Berufskollegs genießen.“
Berthold Schröder, Präsident des Westdeutschen Handwerkskammertags betont:
„Wir rufen die zukünftige Landesregierung dazu auf, die betrieblich verantwortete berufliche Bildung deutlich zu stärken. Nordrhein-Westfalen hat dafür alle Chancen. Die gesellschaftliche Wertschätzung für duale Ausbildung und Höhere Berufsbildung kann nur mit Politik erreicht werden, denn viel zu lange wurde in Deutschland der Fokus ausschließlich auf das Hochschulstudium gelegt.”
IHK NRW und WHKT rufen deshalb die künftige NRW-Landesregierung dazu auf, die betrieblich verantwortete berufliche Bildung zu stärken und dabei den Schwerpunkt auf folgende Themen zu legen:

I.    DUALE AUSBILDUNG UND HÖHERE BERUFSBILDUNG GESELLSCHAFTSPOLITISCH NACH VORNE BRINGEN

Berufliche Orientierung an allen Schulformen etablieren

Für die Wirtschaft gilt: Der berufliche Anschluss ist genauso wichtig wie der Schulabschluss. Die berufliche Orientierung kommt in den Schulen aber nach wie vor zu kurz. Für die Zukunft sollte gelten: Berufsorientierung und Berufsvorbereitung genießen an allen Schulformen und Schulen denselben Stellenwert wie Unterricht - auch an Gymnasien, der Schulform mit den meisten Schüler:innen. Dabei wird gleichwertig zu Karrierewegen mit beruflicher Bildung (Aus- und Weiterbildung) und akademischer Bildung informiert. Praxisphasen zur beruflichen Orientierung werden gestärkt und durch virtuelle Formate ergänzt. Das Landesprogramm „Kein Abschluss ohne Anschluss“ wird ausgebaut, um geeignete und individuell passende Anschlussperspektiven nach dem Schulabschluss für alle Schülerinnen und Schüler zu entwickeln. Einsätze von jungen Auszubildenden als sogenannte „Ausbildungsbotschafter:innen“ werden fester Bestandteil der beruflichen Orientierung in NRW.

Kenntnisse über die Duale Ausbildung und deren vielfältige Karriereoptionen in allen gesellschaftlichen Gruppen vermitteln

Nicht nur Schüler:innen und Lehrkräfte sollten erfahren, welche Perspektiven die Aus- und Weiterbildung bietet. Ohne eine breite gesellschaftliche Akzeptanz und hohe Wertschätzung wird die berufliche Bildung an Bedeutung verlieren. Das Land NRW sollte mit einer Informations- und Aufklärungskampagne mehr Kenntnisse über die berufliche Bildung schaffen. Kenntnisse sind die Grundvoraussetzung für Wertschätzung. 

II.    UMSTEUERN IM SYSTEM BERUFSKOLLEG

Duale Ausbildung an den Berufskollegs priorisieren

Berufsschullehrkräfte sind knapp. Deshalb ist wichtig, dass Berufskollegs der dualen Ausbildung klare Priorität geben. Das bedeutet, dass der dualen Ausbildung bei schulinterner, aber auch bei regionaler Bildungsangebotsplanung, klar der Vorrang gegeben wird. Der Lehrkräfteeinsatz ist zuerst in den Fachklassen des dualen Ausbildungssystems sicherzustellen und nur darüberhinausgehende Ressourcen sind für andere Bildungsangebote einzusetzen. Mit Hilfe digitaler Unterrichtsformen ist es außerdem möglich, den Berufsschulunterricht regional- und schulübergreifend zu organisieren. Fächer gemeinsam zu unterrichten und die fachlichen Spezifika ausbildungsortsnah hybrid oder rein digital abzubilden, stärkt die Berufsausbildung vor Ort und schont die knappe Ressource Lehrkraft. Kurzfristig benötigt NRW eine klare Strategie zur Bekämpfung des Fachlehrkräftemangels

Fließender Übergang: Von der Schule direkt in die Ausbildung

Das Eintrittsalter in die duale Ausbildung steigt immer weiter. Der Besuch einer weiteren Schule  nach dem ersten Schulabschluss ist zu einem Trend geworden, durch den immer mehr Steuermittel eingesetzt werden müssen. Zu oft bleibt dabei der Mehrwert für die berufliche Entwicklung in der Praxis für die Schülerinnen und Schüler fraglich. Eine klare Ausrichtung der Bildungsangebote an den regionalen Bedarfen des Arbeitsmarktes ist deshalb wichtig. Die Entwicklungsplanung für Berufskollegs sollte deshalb zwischen den Schulträgern übergreifend etabliert werden. Und die Wirtschaft sollte unbedingt in diese Planungsprozesse eingebunden werden.

III.    GLEICHWERTIGKEIT HEISST AUCH GLEICHBEHANDLUNG

Karriere entwickeln: Berufliche und akademische Abschlüsse

Der berufliche Weg über die duale Erstausbildung endet nicht mit der Abschluss- bzw. Gesellenprüfung. Vielmehr eröffnet die erfolgreiche Ausbildung ein breites Feld an Weiterbildungsmöglichkeiten, die beruflich zu einem Aufstieg führen (Höhere Berufsbildung). 
Die berufliche Bildung braucht eine Strategie zur Exzellenzförderung. Die Hochschulen in NRW erhalten im Rahmen der Exzellenzinitiative jährlich etwa eine halbe Milliarde Euro an Fördergeldern. Eine vergleichbare Förderung für die Infrastruktur der dualen Ausbildung gibt es nicht. Auch die Begabtenförderung von Auszubildenden bis hin in die Höhere Berufsbildung ist ausbaufähig.
Bei einem erfolgreichen Abschluss sollten die Qualifizierungskosten den Lernenden aus der Höheren Berufsbildung erstattet werden. Bisher werden diese nur anteilig erstattet. Dies ist eine Benachteiligung gegenüber der akademischen Bildung.  
Im öffentlichen Dienst, sowohl im Tarifrecht als auch im Laufbahnrecht, sollten die Abschlüsse der Höheren Berufsbildung gleichberechtigt mit akademischen Abschlüssen berücksichtigt werden.

Regionale und internationale Mobilität von Auszubildenden fördern

Die Angebote für Auszubildende sollten denen für Studierende in nichts nachstehen. Zu einer höheren internationalen Mobilität von Auszubildenden kann der geförderte Aufbau beruflicher Auslandsämter bei den Kammern, vergleichbar zu akademischen Auslandsämtern bei den Hochschulen, beitragen.
Freie Ausbildungsstellen und unversorgte Bewerber finden räumlich nicht immer zusammen. Das Azubiticket in NRW kann einen Beitrag dazu leisten, diese Distanzen zu überwinden. Mit einer besseren Preisgestaltung gewinnt das Ticket weiter an Attraktivität. Der nächste Schritt zur Förderung von Azubi-Mobilität sind Azubi-Wohnheime.

IV.    VORSICHT BEI DER „AUSBILDUNGSGARANTIE“

Immer mehr Ausbildungsplätze bei immer weniger Bewerbern – dieser Trend droht sich nach der Pandemie fortzusetzen. Die Folge: neue Höchstwerte bei unbesetzten Ausbildungsstellen. Die öffentliche Diskussion über (umlagefinanzierte) Ausbildungsgarantien überrascht deshalb. Und sie birgt Gefahren: Die künstlich geschaffenen Alternativen würden es noch schwerer machen, echte betriebliche Ausbildungsplätze zu besetzen. Für die Jugendlichen bestünde das Risiko einer Ausbildung an den Bedarfen des Arbeitsmarktes vorbei. Alle Jugendlichen ohne Ausbildungsplatz brauchen Wege in den Beruf. Diese weiterzuentwickeln ist dringend notwendig und eine Aufgabe des Ausbildungskonsens NRW.